29. Juni 2023 von Michael Westermeier
Wie ein „Update“ auf Industrie 4.0 gelingt: Digitale Nachrüstung durch Retrofit-Sensorik
Die mittelständische Produktion gilt im industriellen Umfeld auch heute noch als vergleichsweise wenig digitalisiert – und das obwohl gerade hier enorme Potenziale ausgeschöpft werden können. Tatsächlich herrscht sogar ein riesiges Gefälle zwischen den wenigen voll digitalisierten und den häufig noch komplett analogen Produktionsstätten. Und trotzdem gilt auch für den deutschen Mittelstand: Die weltweite industrielle Produktion unterliegt einem Wandel, der immer stärker in Richtung Digitalisierung geht. Um als Produzentin oder Produzent nicht vom Markt verdrängt zu werden und konkurrenzfähig in die Zukunft gehen zu können, werden moderne Produktionsprozesse ständig digital überwacht, analysiert und optimiert.
Chancen der Digitalisierung im Maschinenbau
Die Kernziele des innovativen Maschinenbaus waren schon immer die Optimierung der Auslastung von Maschinen sowie die Vereinfachung der Wartung. Eine Einführung der Digitalisierung ermöglicht heute auf der einen Seite zusätzlich die Nutzung von Cloud-Systemen mit scheinbar ständig steigender Rechenleistung und Prozesskontrolle in Echtzeit, sie erhöht aber auf der anderen Seite die Anlagenkomplexität zumeist erheblich. Außerdem gibt die Digitalisierung den produzierenden Unternehmen neue Möglichkeiten der Kontrolle über die eigenen Produkte und Insights in das Verhalten der Kundinnen und Kunden mit diesen digitalen Produkten. Ein Beispiel: die Integration eines voll automatisierten Condition Monitorings in die Produktionsanlage, das wiederum die Datengrundlage für eine weitreichende Predictive Maintenance – also eine (KI-)automatisierte vorausschauende Wartung – schafft.
Doch wie eingangs beschrieben, stehen viele Mittelständlerinnen und Mittelständler heute vor einem heterogenen Maschinenpark mit teils alten Anlagen, die auf den ersten Blick meilenweit von digitaler Vernetzung entfernt sind. Oder sie besitzen viele Maschinen unterschiedlichster Herstellerinnen und Hersteller, die vielleicht einzeln schon vernetzbar wären, aber aufgrund noch fehlender Schnittstellen und Standards nur proprietär zu digitalisieren sind.
Eine interessante digitale Lösung für Betreibende von solchen Produktionsanlagen ist die Retrofit-Sensorik. Doch was bedeutet das konkret? Und welche Möglichkeiten bietet Retrofit-Sensorik den mittelständischen Unternehmen?
Was kann Retrofit?
Bei dem Wort „Retrofit“ denken wir meist ausschließlich an die Digitalisierung von alten Maschinen und Anlagen. Das ist auch generell richtig, allerdings gibt es auch eine zweite Seite der Medaille: Nur ein kleiner Teilbereich des Retrofits befasst sich vorrangig mit der Anbindung von alten Maschinen. Häufig können durch Retrofit-Sensorik auch sehr kostengünstig moderne oder bereits vernetzte Maschinen erweitert werden. Oder man nutzt die Retrofit-Sensorik zur herstellerübergreifenden Harmonisierung des heterogenen Maschinenparks.
Diese Lösung bietet zwei relevante Vorteile, die sich für jedes Unternehmen auszahlen:
- Die ganzheitliche Überwachung und Optimierung der Lebensdauer von Anlagen und Maschinen über den gesamten Bestand hinweg.
- Die Senkung von Produktionskosten durch Steigerung der Produktivität und Qualität, indem die Verfügbarkeit von Maschinen überwacht und erhöht wird. Wartungen können dabei beispielsweise zeitlich mit geplanten Stillständen abgestimmt werden.
Retrofit-Sensorik ist kein Selbstzweck: Der richtige Use Case ist entscheidend
Doch bei jedem Wunsch nach schneller Digitalisierung gilt es, die eigentlichen Use Cases nicht aus den Augen zu verlieren. Retrofit-Lösungen bieten selbstverständlich viele Vorteile, die Sensorik muss aber immer spezifisch zur jeweiligen Anwendung passen, um sich langfristig auszuzahlen. Niemandem bringt es am Ende etwas, Unmengen an Daten zu erzeugen und zu speichern, wenn der passende Nutzen dahinter fehlt oder unklar ist.
Ein gutes Beispiel sind Plug-&-Play-Systeme von Retrofit-Sensorik, die oft als Starter Kits angeboten werden. Als Set bestehen sie üblicherweise aus einer Hardware- und einer Software-Komponente und bieten einen einfachen und günstigen Einstieg in die digitale Vernetzung von Maschinen mittels IIoT-Technologie. Ohne ein klares Konzept für die Datennutzung im Unternehmen, ohne fachliche und technologische Beratung, Konzeption und Parametrisierung bereits vor der Implementierung der Kits füllen diese jedoch nur sinnlos Datenbanken und bringen keinen Mehrwert für die Produktion und das Unternehmen.
Um den Wert der digitalen Retrofit-Lösung für das Unternehmen zu maximieren, ist es wichtig, diese Technologie nur bei den Bauteilen, Komponenten oder Maschinenabschnitten einzusetzen, bei denen auch tatsächlich Optimierungspotenziale und entsprechend große Hebel vorhanden sind. Dazu müssen zunächst die kritischen Prozesse und die dahinterliegenden Use Cases mit allen Expertinnen und Experten eingehend analysiert und bewertet werden.
Richtig eingesetzt bietet Retrofit-Sensorik weitreichende organisatorische, prozessuale und monetäre Vorteile gegenüber der Neuanschaffung von Maschinen und eine flexible Anpassung an sich ständig ändernde Rahmenbedingungen.
Darum lohnt sich Retrofit außerdem
Der am häufigsten genannte Vorteil im Zusammenhang mit Retrofit-Sensorik ist sicherlich die Kostenersparnis der digitalen Retrofit-Lösung gegenüber einer Neuanschaffung. Tatsächlich stelle ich als Experte in der Praxis aber immer wieder fest, dass dies nur ein eher kleiner Aspekt der eigentlich wichtigen Vorteile ist.
Meiner Erfahrung nach liegt der größte, meist unbemerkte Vorteil bei der Digitalisierung bestehender Maschinen mit Retrofit-Sensorik in der unveränderten Bedienbarkeit der Maschine durch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn obwohl Ihre Maschine plötzlich vernetzt ist und diverse neue digitale Funktionen aufweist, ist keine neue Einweisung erforderlich. Ihre Mitarbeitenden können wie bisher mit der Maschine interagieren und so ohne großen Schulungsaufwand durchgehend produktiv bleiben.
Retrofit-Sensoren tragen auch automatisch zur sogenannten „Sensorfusion“ bei. Darunter versteht man das Zusammenführen und Verknüpfen verschiedener Prozessmesswerte, um aus Ereignissen und Messwerten detaillierte Analysen generieren zu können. Damit bieten Retrofit-Sensoren eine kostengünstige Möglichkeit, schnell Erkenntnisse aus Maschinen zu gewinnen und diese z. B. in Proof of Concepts effizient einzusetzen.
Ein wichtiger und abschließender Punkt ist außerdem, dass Retrofit-Sensoren zur Einhaltung und Überwachung neu entstehender und sich ändernder gesetzlicher Anforderungen und Vorschriften eingesetzt werden können. Auch hier ist keine Neuanschaffung Ihrer Anlagen erforderlich. Neu eingeführte Regelungen zur Steigerung und Überwachung der Energieeffizienz oder neu entstehende Anforderungen an die Dokumentation durch Hygienerichtlinien können ebenso umgesetzt werden wie viele weitere zukünftige regulatorische Ereignisse.
Retrofit-Sensorik kann produzierenden Unternehmen, vor allem im deutschen Mittelstand, die Chance bieten, vom Marktbegleiter zum digitalen Vorreiter zu werden, anstatt – meist zu spät – nur auf den sich ständig verändernden Markt zu reagieren.
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