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„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Die meisten werden dieses Zitat von Helmut Schmidt kennen. Die wenigsten wissen jedoch, es richtig in den Kontext einzuordnen. Dies hat Helmut Schmidt viele Jahre später in der ihm eigenen Art selbst vorgenommen, als er in einem Interview auf jenes bewusste Zitat angesprochen wurde und kurz und knapp antwortete: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“

Helmut Schmidt war sicher ein Pragmatiker. Dennoch hatte auch er sehr klare und ehrgeizige Ziele und darum soll es in diesem Artikel gehen. Warum sollten sich Unternehmen Ziele setzen und wie formuliert man diese verständlich und nachvollziehbar, so dass sich alle im Unternehmen dahinter versammeln können?

Denn wie sagte schon der Dichter Christian Morgenstern: „Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben ...“

Die naheliegendste Antwort auf das „Warum?“ ist also: Orientierung!

Orientierung zu jedem Zeitpunkt und in jeder Phase der Entwicklung eines Unternehmens. Daher sollten Unternehmen über den kurzfristigen operativen Horizont hinaus auch mittel- und langfristige Ziele verfolgen. Ebenso wie eine dauerhaft gültige, immergrüne Vision.

Es ist weder Überheblichkeit noch sind es Allmachtsphantasien, die mit dem Streben nach einer Vision verbunden sind. Diese soll uns lediglich dauerhaft Orientierung geben. Auch dann, wenn wir bereits eine große Mission erfolgreich abgeschlossen haben.

Manche Unternehmen versuchen auch, die Orientierung über die Definition von Unternehmenszwecken, Haltung und Werten zu erreichen, die uns Leitplanken für unsere tägliche Arbeit setzen. Alles in allem fasse ich diese Punkte unter dem Begriff Leitbild zusammen, den ich euch im Nachfolgenden näher erläutern möchte.

Begriffsdefinition

Eines vorab: Es gibt im Netz tonnenweise gutes Material zu diesem Thema, aber keine einheitliche Definition eines Unternehmensleitbildes. Damit ihr euch bei der Ausarbeitung eines solchen Leitbildes nicht in Diskussionen über Begrifflichkeiten verstrickt, empfiehlt es sich, klare und verständliche methodische Vorgaben zu machen.

Ein Leitbild soll auf allen Ebenen eines Unternehmens Wirkung entfalten. Es sollte auf der einen Seite konkret genug sein, um zum Beispiel in Konfliktsituationen Entscheidungskriterien daraus ableiten zu können. Auf der anderen Seite darf es aber auch nicht zu konkret sein, damit es nicht wie ein strikt hierarchisches Diktat wirkt. Die Ausdifferenzierung und Konkretisierung sollten daher in den einzelnen Abteilungen liegen.

Außerdem sollte das Leitbild nicht im stillen Kämmerlein der Unternehmensführung entwickelt werden, sondern in konzertierten Workshops mit einer breit gestreuten Gruppe von Mitarbeitenden. Hierzu kann man zunächst mittels Leitfragen Informationen und Meinungen der Gruppe einsammeln und diese anschließend bezüglich ihrer Wichtigkeit zur Abstimmung stellen. Dann fällt der finale Schritt, hieraus klare und markante Sätze zu formulieren, nicht mehr schwer und die Zustimmungsrate der Belegschaft fällt in der Regel höher aus.

Im Nachfolgenden beschreibe ich einige Definitionen und Leitfragen, die sich für mich in diesem Zusammenhang bewährt haben. Diese erheben aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die folgende Graphik gibt zunächst einen Überblick über die Begriffe und ihre Zusammenhänge, bevor ich im Nachgang die einzelnen Elemente im Detail beschreibe:

Zweck (Purpose)

Der Zweck oder Purpose eines Unternehmens ist der über allem stehende, höhere Sinn, die Bestimmung und der Nutzen des Unternehmens, der über die Gewinnerzielung hinausgeht.

Zugegeben, am Purpose scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn für neumodischen Schnickschnack oder Marketing-Geschwätz. Die anderen, insbesondere viele junge Menschen, halten es mit Simon Sinek: „Always start with why.“

Wenn der Purpose wie eine simple Behauptung klingt, die selbst die eigenen Mitarbeitenden nicht für glaubwürdig halten, dann ist dieser sicherlich eher schädlich als nützlich. Ich persönlich halte es mit Peter F. Drucker, dem alten Management-Vordenker: „Der Zweck eines Unternehmens ist es, Kundinnen und Kunden zu gewinnen und ihnen zu dienen.“

Ein guter Indikator ist daher für mich immer dann gegeben, wenn der Purpose einen klaren und glaubhaften Bezug zu Kundinnen und Kunden herstellen kann. Wichtig ist nämlich, dass der Zweck eines Unternehmens eben nicht in der Gewinnmaximierung liegt, wie es viele Betriebswirtinnen und wirte heute noch propagieren. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin zurückhaltend mit übertriebenen Erwartungen an die soziale Verantwortung von Unternehmen, insbesondere, wenn diese an Altruismus grenzen. Auch habe ich nichts gegen Unternehmensgewinne einzuwenden.

Bilanzen und Unternehmensgewinne geben aber keinerlei Orientierung, wohin sich ein Unternehmen in disruptiven Zeiten entwickeln soll, um überlebensfähig zu bleiben. Gewinn ist daher weder Zweck noch Ziel eines Unternehmens, sondern lediglich eine Notwendigkeit.

Zur Erarbeitung eines Purpose in einer größeren Gruppe bietet es sich an, mittels Leitfragen Informationen und Meinungen einzusammeln. Für mich haben sich die folgenden Leitfragen bewährt:

  • Was macht uns stolz, wenn wir über unsere Arbeit für unsere Kundinnen und Kunden reden?
  • Was macht uns richtig Spaß an dieser Arbeit?

Vision

Die Vision ist das weit entfernte, höchst ambitionierte und inspirierende Wunschbild. Sie ist sehr langfristig, idealerweise sogar „immergrün“, das heißt, sie ändert sich nicht. Auch dann nicht, wenn wir große Etappenziele bereits erreicht oder eine Mission erfolgreich abgeschlossen haben.

Eine gute Vision orientiert sich zuallererst an dem Nutzen, den ein Unternehmen für Kundinnen und Kunden schafft. Sie sollte kurz und knackig formuliert sein, so dass alle im Unternehmen sie jederzeit auswendig rezitieren können. Da sowohl der Purpose als auch die Vision möglichst langfristig bis dauerhaft Orientierung geben sollen, lassen sie sich auch miteinander kombinieren.

Mein Lieblingsbeispiel ist hier die erste Vision von Amazon, die gleichermaßen als Purpose und Vision verstanden werden kann: „It’s our vision to be Earth’s most customer-centric company, where customers can find and discover anything they might want to buy online.“

Bei der Erarbeitung einer eigenen Vision ist es besonders wichtig, die Meinungsbildung im Unternehmen und seinen einzelnen Abteilungen mittels Leitfragen zu steuern. Keinesfalls solltet ihr euch dabei in Produktvisionen verstricken. Das funktioniert in den seltensten Fällen, da die gesammelten Vorstellungen von potenziellen zukünftigen Produkten in der Regel nichts weiter als einen Haufen von Lösungshypothesen darstellen, die niemand vorab wirklich beurteilen kann.

Schlimmstenfalls behindern solche Produktvisionen ein iteratives und inkrementelles Vorgehen und verzögern einen frühen Markteintritt. Lest hierzu gerne auch meinen Blog-Beitrag zum Lean-Start-up-Prinzip (Build-Measure-Learn – Kundennutzen maximieren und Verschwendung vermeiden), wenn ihr an weiteren Details interessiert seid.

Die Leitfragen sollten daher den Fokus auf das „Was?“ lenken und das genaue „Wie?“ vermeiden:

  • Was ist der größte Nutzen, den unsere Produkte für Kundinnen und Kunden haben?
  • Was würde mich als Kundin oder Kunde an unseren Produkten begeistern?
  • Welche Dimensionen kann unser Wachstum haben und was ist die größtmögliche Ambition?
Haltung und Werte (Mindset)

Während die Vision ein höchst ambitioniertes Ziel darstellt, beschäftigen sich Haltung und Werte mit den wichtigen übergeordneten ethischen Überzeugungen, die unsere Entscheidungen und Handlungen leiten sollen. Häufig spricht man in diesem Zusammenhang auch vom Mindset, das insbesondere im Umfeld einer agilen Transformation von großer Bedeutung ist.

Werte wie Verbindlichkeit (Commitment), Zusammenarbeit, Effektivität, Mut, Fokus, Vertrauen, Lernbereitschaft, Offenheit und Transparenz geben Orientierung bei der täglichen Zusammenarbeit.

Auch hierbei können uns Leitfragen helfen, ein Meinungsbild im Unternehmen abzufragen, aber auch zu prägen:

  • Welches Menschenbild soll unsere Unternehmenskultur prägen? (Eine Frage, die darauf abzielt, ob wir eher an lernende und mit ihren Aufgaben wachsende Menschen glauben, die intrinsisch motiviert sind und am besten eigenverantwortlich und selbstorganisiert arbeiten. Oder fixieren wir uns auf vermeintlich „angeborene“ Talente, extrinsische Anreizsysteme und Arbeitskontrolle in der Hoffnung, die Menschen in unserem Unternehmen damit zu Höchstleistungen anzutreiben?)
  • Für welche Werte stehen wir ein?
Mission

Während alle bisher genannten Begriffe langfristiger oder immergrüner Natur sind, fokussiert sich die Mission auf einen mittelfristigen Zeithorizont von 1 bis 3 Jahren. Sie soll unsere nächste große Aufgabe umreißen, die wir uns konkret vornehmen, um unsere Vision der Realität näher zu bringen und unseren Purpose mit Leben zu erfüllen.

Eine gute Mission ist kurz und knackig, so dass alle im Unternehmen diese jederzeit auswendig rezitieren können.

Leitfragen:

  • Wo wollen wir in 3 Jahren stehen?
  • Welchen Nutzen schaffen wir damit für unsere Kunden?
  • Sind wir sicher, dass uns die Mission unserer Vision näher bringt?

Strategische Handlungsfelder

Die nächste Mission zu operationalisieren, erfordert strategisches Handeln. Hierzu sollte man sich vor allem folgende Leitfrage stellen: Wen oder was benötigen wir für den Erfolg der nächsten Mission?

Mögliche Dimensionen können zum Beispiel Kundenzentrierung, Nutzenmaximierung, Prozesseffektivität und Ähnliches sein.

Dabei solltet ihr aber nie gesunde und engagierte Mitarbeitende vergessen, denn diese sind eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Amazon seine Vision mittlerweile überarbeitet hat und nun auch von „… Earth’s best employer, and Earth’s safest place to work …“ spricht.

Aus den Dimensionen lassen sich dann die strategischen Handlungsfelder, häufig auch strategische Säulen oder Hebel genannt, ableiten, die uns mittelfristig Struktur geben. Die strategischen Handlungsfelder sind jedoch keine konkreten Ziele, sie stecken vielmehr das Spielfeld ab, auf dem wir uns entfalten dürfen.

Fazit

Um ein gutes Leitbild für ein Unternehmen zu entwickeln, benötigt ihr sicher nicht immer und sofort alle oben genannten Elemente. Wichtig ist es jedoch, gleich zu Beginn methodisch und begrifflich für klare Vorgaben zu sorgen und mittels Leitfragen ein Meinungsbild einer breit und divers aufgestellten Gruppe von Menschen im Unternehmen einzuholen. Dies erhöht sowohl die Verständlichkeit als auch Verbindlichkeit der Ergebnisse.

Gleichwohl ist damit erst ein erster Schritt erreicht. In einem zweiten Schritt gilt es, das erarbeitete Leitbild in der täglichen Arbeit mit Leben zu erfüllen, also zu operationalisieren. Dazu erfahrt ihr mehr in einem weiteren Blog-Beitrag.

Ihr möchtet gern mehr über spannende Themen aus der adesso-Welt erfahren? Dann werft einen Blick in unsere bisher erschienenen Blog-Beiträge.

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Bild Joachim  Flierdl

Autor Joachim Flierdl

Joachim Flierdl ist seit vielen Jahren als Consultant und Agilist bei adesso tätig. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Beratung von Product Ownern und Business Analysten. Darüber hinaus beschäftigt er sich intensiv mit digitalen Kundenservices.

Kategorie:

Inside adesso

Schlagwörter:

Strategie

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