27. Juli 2022 von Stephen Lorenzen, Lars Zimmermann und Georg Benhöfer
Europäische Reaktionen auf drohende Gas-Drosselungen im Vergleich
In vorherigen Blog-Beiträgen berichteten wir bereits über die Reaktionen der Bundesregierung auf die Abhängigkeit vom russischen Gas:
Doch wie ist es um die EU bestellt?
Aktuell sehen wir eine vermeintlich geschlossene europäische Reaktion gegenüber Russland, mit diversen Sanktionen und einem europäischen Plan zur Senkung der Gasnachfrage – denn fast die Hälfte der Mitgliedstaaten sind bereits von einer Verringerung des Lieferumfangs betroffen. Die EU verfügt über Vorschriften zur Vorbeugung gegen eine Unterbrechung der Gaslieferungen sowie zur Reaktion darauf, wonach die Mitgliedstaaten über Pläne zur Bewältigung von Versorgungsunterbrechungen auf drei Krisenstufen verfügen müssen: Frühwarnung, Alarm und Notfall. Aber wie sieht es in ausgewählten betreffenden Ländern aus? Wie reagieren die einzelnen EU-Länder politisch? Wir geben einen Überblick.
Die Auswirkungen einer Unterbrechung der russischen Gasversorgung sind in Deutschland besonders stark zu spüren, da das Land etwa 39 Prozent seines Erdgases von Russland bezieht. Wäre der russische Gasfluss durch die Nord Stream 1 nach der Wartungspause nicht mehr fortgesetzt worden, hätten die wirtschaftlichen Kosten der Unterbrechung in der zweiten Jahreshälfte 2022 193 Milliarden Euro erreichen können. Nach der jüngsten Drosselung von Nord Stream 1 verabschiedete Deutschland im Parlament ein Notstandsgesetz zur Reaktivierung einiger Kohlekraftwerke, um die Stromerzeugung zu unterstützen, sowie Maßnahmen zur Förderung des Ausbaus der erneuerbaren Energien und zur Erhöhung der LNG-Importe aus Ländern wie Argentinien. Das soll Deutschland dabei helfen, sich vom russischen Gas zu entwöhnen und die Energieversorgung vor dem Winter zu sichern, indem ein Teil des Stroms mit Kohle statt mit Gas erzeugt wird. Ein Rückgriff auf Kernenergie ist nicht mehr möglich, da die letzten drei Kernkraftwerke in diesem Jahr abgeschaltet werden sollen.
Wie reagieren die anderen EU-Länder aktuell?
Italien war nach Deutschland der zweitgrößte europäische Abnehmer von russischem Gas mit einem Anteil von rund 45 Prozent (2019). Italien, das neue Lieferanten sucht und auf Kohle und erneuerbare Energien setzt, könnte nach eigenen Angaben bis 2024 unabhängig von russischem Gas sein. Die italienische Regierung hat wiederholt angekündigt, dass sie nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine die Abhängigkeit von Russland bei den Gaslieferungen beenden will. Sie ist auf der Suche nach neuen Quellen, beispielsweise wurde kürzlich eine Vereinbarung zur Erhöhung der Gaslieferungen aus Algerien geschlossen, und hat über Pläne berichtet, mehr Kohle zu verbrennen, um die verringerten Gaslieferungen auszugleichen, und auch die Erzeugung erneuerbarer Energien zu fördern. Das Land könnte bis Ende 2024 unabhängig von russischem Gas sein. Seit Putins Einmarsch in der Ukraine hat die italienische Regierung ihre Energiequellen rasch diversifiziert, um vom russischen Gas wegzukommen. Sie hat Energieabkommen mit Algerien, Angola, Ägypten und anderen Ländern unterzeichnet und ihre Wiederverdampfungskapazität durch den Kauf einer neuen LNG-Anlage erhöht.
Österreich bezieht sein Gas zum Großteil aus Russland. Laut Schätzungen von Eurostat kommen 59 Prozent des Gases aus Russland – aktuell sprechen heimische Fachleute immer von rund 80 Prozent. Österreich hat die erste Stufe des dreistufigen Notfallplans aktiviert, prüft Maßnahmen zur Diversifizierung der Gasversorgung und wird ein Gaskraftwerk auf die Stromerzeugung aus Kohle umstellen.
Frankreich arbeitet an Notfallplänen für den Fall, dass die russischen Gaslieferungen ausbleiben, während die Chefs der Energieunternehmen Privatpersonen und Unternehmen dazu auffordern, ihren Stromverbrauch zu senken. In Frankreich hat sich die Energiewirtschaft auf Öl umgestellt. Verschiedene Unternehmen rüsten ihre Gaskessel auf Ölbetrieb um, um Störungen zu vermeiden, falls eine weitere Reduzierung der russischen Gaslieferungen zu Stromausfällen führen sollte. Obwohl Frankreich weit weniger von russischem Gas abhängig ist als Deutschland (17 Prozent), haben Ausfälle und Reparaturen an alternden Kraftwerken zur Folge, dass auch Electricite de France Schwierigkeiten hat, den Strombedarf Frankreichs zu decken, was den Energiesektor zunehmend unter Druck setzt.
Die Tschechische Republik hat erklärt, sie habe die reduzierten Gaslieferungen der russischen Gazprom durch Mengen aus anderen Quellen ersetzt. Darüber hinaus haben Deutschland und die Tschechische Republik kürzlich eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der sie sich verpflichten, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu überwinden und den Übergang zu kohlenstoffarmer Energie zu beschleunigen.
Bulgarien, das über 90 Prozent seines Gasbedarfs mit Gas aus Russland deckt, hat sich bereit erklärt, verflüssigtes Erdgas (LNG) aus den USA zu kaufen, und hat die Gespräche mit Aserbaidschan über eine Erhöhung der Gaslieferungen intensiviert. Außerdem hat der bulgarische Erdgasnetzbetreiber eine Ausschreibung für unterirdische Bohrungen eröffnet, um so Gasvorkommen finden zu können.
Polen bezieht rund 50 Prozent seines jährlichen Gasbedarfs aus Russland, hat aber nach eigenen Angaben derzeit keine Pläne, den Gasverbrauch einzuschränken.
Die Niederlande, die zwischen 15 und 20 Prozent ihres Gases aus Russland beziehen, haben die Frühwarnphase ihres Energiekrisenplans aktiviert. Die Obergrenze für die Produktion von Kohlekraftwerken wurde aufgehoben, um die Abhängigkeit von russischem Gas im Zuge des Krieges in der Ukraine zu verringern. Zudem wird die Bevölkerung aufgefordert, weniger Gas zu verbrauchen. Die jüngste Entscheidung von Gazprom, Erdgaslieferungen in die Niederlande zu unterbrechen, hat keine Auswirkungen auf die physische Versorgung der niederländischen Haushalte mit Gas. Die niederländische Regierung erklärt auf ihrer Website, dass das Land kurzfristig über genügend Gasreserven verfügt und plant, mehr Flüssigerdgas aus anderen Ländern als Russland zu importieren.
Finnland habe Maßnahmen zur Vorbereitung ergriffen, wie etwa die Beibehaltung alternativer Energiequellen und die Pachtung eines schwimmenden LNG-Terminals mit Estland. Ungefähr 60 bis 70 Prozent des in Finnland verbrauchten Gases stammen aus Russland. Die vorläufigen Daten des finnischen statistischen Amtes zeigen jedoch, dass nur wenig mehr als fünf Prozent des Gesamtenergieverbrauchs des Landes auf Erdgas entfielen, während Öl, holzbasierte Biomasse und Kernkraft die wichtigsten Energiequellen waren. Obwohl der Anteil des Gases am Gesamtverbrauch Finnlands prozentual gesehen sehr gering ist, wird das Gas von den Industriesektoren verwendet, in denen es nicht leicht ersetzt werden kann. Der größte Verbraucher ist die chemische Industrie Finnlands, zu der auch die Ölraffinerie des Energiekonzerns Neste gehört.
Solidarität ist der Schlüssel
So unterschiedlich die individuellen Abhängigkeiten und Maßnahmen innerhalb der Europäischen Union gegenüber Russland aussehen, umso wichtiger erscheint erneut, den Schulterschluss mit seinen Partnern zu suchen und als Gemeinschaft zu agieren. Auch wenn einige Mitgliedstaaten vom russischen Gas weniger abhängen, so werden alle Mitgliedstaaten die Folgen einer solchen Unterbrechung durch den Binnenmarkt zu spüren bekommen. Um sich auf potenziell schwerwiegende Unterbrechungen in diesem Winter vorzubereiten, sind eine EU-weite Koordinierung und Solidarität unerlässlich. Die EU-Verordnung zur Versorgungssicherheit von 2017 verlangt von den EU-Ländern, die notwendigen technischen, rechtlichen und finanziellen Vorkehrungen zu treffen, um die Bereitstellung von Solidaritätsgas in der Praxis zu ermöglichen. Bisher seien jedoch nur sechs bilaterale Gassolidaritätsabkommen zwischen EU-Ländern unterzeichnet worden, so die Kommission. Bilaterale Abkommen dienen dazu, die gesetzlich geschützten Kundinnen und Kunden von Nachbarländern im Krisenfall mit Gas zu versorgen. Alle Mitgliedstaaten können einen Beitrag zum Sparen und zur Speicherung leisten und sollten sich bereit zeigen, im Falle einer Energiesolidarität Gas mit den anderen Nachbarn zu teilen. Nur gemeinsam schaffen wir es durch diese Krise.
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