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Die Digitalisierung und die damit einhergehende Verschiebung lokaler Geschäfte des täglichen Bedarfs ins Internet erleichtern den meisten Menschen den Alltag. Das betrifft nicht nur den Kauf von Produkten in Onlineshops, es geht weiter über Bankgeschäfte, Urlaubsbuchungen und die tägliche Kommunikation mit Freunden, Familie und Bekannten über soziale Netzwerke. In so einer zunehmend digitalen Welt ist es deshalb unerlässlich, dass allen Bürgerinnen und Bürgern ein gleichberechtigter Zugang zu digitalen Inhalten und Dienstleistungen gewährt wird. Klingt absolut nachvollziehbar, dennoch musste es erst ein Gesetz geben, damit dieses Thema Beachtung findet. Denn was für die meisten von uns selbstverständlich und leicht zu handhaben ist, ist für andere mit großen Barrieren verbunden.

Dabei ist es gerade in der heutigen Zeit doch keine große Herausforderung, allen Menschen gleichermaßen digitale Angebote zugänglich zu machen, ohne dass jemand benachteiligt wird. Oder doch? Lasst uns herausfinden, was digitale Barrierefreiheit bedeutet, wem sie hilft und warum dieses Thema noch mehr in den Fokus gerückt werden sollte.

Wie entstehen digitale Barrieren?

Um das näher zu beleuchten, möchte ich gerne kurz den Mensch-Maschine-Dialog erklären. Ein System stellt Informationen in beliebiger Form dar. Die Nutzenden nehmen diese Darstellung sensorisch wahr und müssen das Wahrgenommene kognitiv erkennen und verstehen. Anschließend fällt die Entscheidung zu einer (Re)Aktion, welche wiederum eine motorische Interaktion verlangt. Diese Aktion verändert das interaktive System und dessen Darstellung.

Wo entstehen nun die Barrieren? Bei Einschränkungen, die sensorisch, wie zum Beispiel eine Seh- oder Hörschwäche, motorisch, wie beispielsweise abnehmende Feinmotorik oder schlechtere Reaktionszeit, oder kognitiv, wie Lese- und Verständnisschwäche, bedingt sind. Diese Formen der wahrnehmbaren Einschränkungen können zu jeder Zeit jeden Menschen treffen. Unabhängig davon, ob bereits eine andere Einschränkung diagnostiziert wurde. So kann beispielsweise ein Unfall zu einem gebrochenen Arm führen, sodass die Person einhändig ein System bedienen muss. Altersbedingte Einschränkungen sind möglicherweise grüner Star oder abnehmendes Hör- und Sehvermögen. Diese Art der Einschränkung kann und wird auch viele Personen treffen, die aktuell noch fit sind und sich noch nicht in diese Lage versetzen können. Behinderungen lassen sich in permanente, temporäre und situative Einschränkungen einteilen und zeigen so, dass wirklich jeder davon betroffen sein kann.

Wer profitiert von barrierefreien Anwendungen?

Bei Barrierefreiheit denkt man zunächst an Menschen mit Behinderung, es sind aber auch ältere Menschen zu berücksichtigen oder solche, die situationsbedingt mit einer Beeinträchtigung leben müssen, wie zum Beispiel Eltern mit Babys im Arm, kranke Menschen oder Personen, die in ihrer Arbeit unter erschwerten Bedingungen arbeiten müssen, wie Lager- oder Bauarbeitende die Handschuhe oder Ohrschützer tragen.

Digitale Barrierefreiheit zielt darauf ab, ein System für eine möglichst große Zielgruppe zugänglich zu machen. Unabhängig davon, ob die Personen mit einer Behinderung leben oder in einer anderen Weise beeinträchtig sind. Die Barrierefreiheit ist ein Teil der Usability, welche die Zufriedenheit und Nutzerfreundlichkeit einer Zielgruppe verbessern möchte. Deshalb profitieren alle Menschen von barrierefreien Anwendungen.

Welche Vorteile bietet digitale Barrierefreiheit?

Digitale Barrierefreiheit fördert die gesellschaftliche Teilhabe, indem sie Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen ermöglicht. Dadurch können sie aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihre Unabhängigkeit bewahren. Das kann beispielhaft folgendes bedeuten:

  • Anwendungen für Screenreader-Software kompatibel machen
  • Vergrößerungsprogramme
  • Videos mit Untertiteln versehen
  • Anwendungen per Tastatursteuerung bedienbar machen

Das steigert nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe, sondern vergrößert automatisch auch eure Zielgruppe. Das Google-Ranking verbessert sich auf Grund optimierter Websites. Da barrierefreie Anwendungen in der Regel besser strukturiert sind, weil sie viele Vorgaben einhalten müssen, wirkt sich das positiv auf die Suchmaschinenoptimierung aus und Google bewertet diese Anwendungen höher, und dadurch wird die Sichtbarkeit im Internet verbessert. Barrierefreie Lösungen sind oft intuitiver und benutzerfreundlicher und führen daher meist zu einer besseren Benutzererfahrung.

Gibt es auch Nachteile?

Die Umstellung einer Bestandssoftware auf eine barrierefreie Anwendung kann initial mit höheren Kosten verbunden sein, da Anpassungen vorgenommen und gegebenenfalls auch Mitarbeiter geschult werden müssen. Auch der Zeitaufwand ist nicht zu unterschätzen, da die Entwicklung und Pflege barrierefreier Anwendungen nicht von heute auf morgen passiert und Barrierefreiheitstests durchgeführt werden müssen. Manchmal müssen auch Kompromisse im Design eingegangen werden, um eine höhere Barrierefreiheitsstufe zu erlangen. Dies kann Auswirkungen auf das geplante Farbschema haben oder die Anpassung bzw. das Weglassen von ästhetischen Elementen bedeuten. Genau genommen würde ich jedoch sagen, dass es keine Nachteile, sondern ein paar Hürden gibt, die gemeistert werden müssen, die aber am Ende mehr Vorteile mit sich bringen.

Woher kommt eigentlich die Gesetzgebung und für wen ist sie relevant?

Der European Accessibility Act (EAA) hat Mitte 2019 beschlossen, alle Mitgliedsstaaten der EU zu verpflichten, Gesetze und Verpflichtungen zu erlassen, die das Ziel verfolgen sollen, die Barrierefreiheit europaweit sicherzustellen.

Bis zum 28. Juni 2022 hatten alle Länder Zeit, diese Vorgabe in nationales Recht umzusetzen. Für Deutschland ist hieraus das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) entstanden. Es wurde am 16. Juni 2021 beschlossen und nach einer Übergangszeit wird es nun zum 28. Juni 2025 in Deutschland verpflichtend. Die Norm EN 301 549 des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes beschreibt das Vorgehen, um sicherzustellen, dass Produkte und Dienstleistungen laut EAA barrierefrei sind.

Für Websites und Apps referenziert diese Norm den internationalen Standard der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1, „Richtlinien für barrierefreie Webinhalte“ auf Level AA, den es seit Juni 2018 gibt.

Unternehmen werden verpflichtet, sowohl Website und mobile Anwendungen, PDF-Dateien und Formulare, digitale Selbstbedienungsterminals und Ticketautomaten, als auch Onlinekurse und Lernplattformen barrierefrei zu gestalten.

Hierunter fällt diesmal nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern besonders die Privatwirtschaft der Bereiche

  • Computer
  • Geldautomaten und Bankdienstleistungen
  • Onlinehandel
  • Telefone und TV-Geräte
  • Telekommunikationsdienstleistungen
  • Transport

Die WCAG ist eine Sammlung von Prinzipien, Richtlinien und Kriterien, mit denen man Websites und Anwendungen auf Barrierefreiheit prüfen kann. Diese Sammlung ist die Grundlage für die deutsche Barrierefreie Informationstechnik Verordnung (BITV), an die sich bereits die öffentliche Verwaltung des Bundes halten muss.

Die Web Content Accessibility Guidelines werden in drei Stufen eingeteilt:

  • Stufe A: Es ist die niedrigste Stufe und beinhaltet grundlegende Anforderungen, ohne die eine Benutzung für Menschen mit Behinderung nicht möglich wäre.
  • Stufe AA: Die mittlere Stufe beinhaltet alle Anforderungen für die große Mehrheit. Hiermit kann ein gutes Maß an Barrierefreiheit sichergestellt werden. Diese Stufe lässt sich ohne besonderen Aufwand umsetzen. Die Norm EN 301 549 des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes fordert die Stufe AA, was bedeutet, alle Anforderungen von A und AA müssen erfüllt sein.
  • Stufe AAA: Das ist die höchste Stufe der WCAG und beinhaltet erweiterte Anforderungen, die nur mit erhöhtem Aufwand umsetzbar sind, aber als Ergebnis eine komplett barrierefreie Anwendung für alle Menschen bietet.
  • Sie wurde Ende August 2022 innerhalb der WCAG 2.2 beschlossen.

Das Wichtigste in Kürze

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist ab 28. Juni 2025 verpflichtend. Produkte, die ab da in den Verkehr gebracht werden und Dienstleistungen, die nach diesem Datum erbracht werden, müssen barrierefrei nach Stufe AA sein.

Was passiert, wenn das Gesetz missachtet wird?

Zunächst muss erstmal festgestellt werden, wenn ein Unternehmen, welches dem BFSG unterliegt, dieses nicht einhält. Sicherlich wird es auch nach dem 28. Juni 2025 eine Karenzzeit geben, in der die Unternehmen darauf hingewiesen werden, den geforderten Pflichten nachzukommen. Bei andauernder Nichteinhaltung jedoch drohen folgende Konsequenzen:

  • Da man bei einer Missachtung des Gesetzes von einer Ordnungswidrigkeit spricht, sind rechtliche Sanktionen wie Bußgelder und die Verpflichtung zur Nachbesserung der digitalen Inhalte die logische Konsequenz. Es ist mit einem Bußgeld von bis zu 100.000 Euro zu rechnen.
  • Klagen von betroffenen Personen oder Interessensgruppen können eingereicht werden, wenn sie feststellen, benachteiligt zu werden. Diese Art von Beschwerden können sehr zeit- und geldintensiv für das beklagte Unternehmen werden und einen Imageverlust auf Grund von Diskriminierung mit sich bringen.
  • Nicht inklusiv agierende Unternehmen riskieren negative Werbung und Vorurteile gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen.
  • Auch der Wegfall von Fördermitteln kann eine mögliche Konsequenz sein, da viele Förderprogramme und öffentliche Ausschreibungen die Einhaltung von Barrierefreiheitsstandards voraussetzen.

Fazit

Digitale Barrierefreiheit ist keineswegs nur eine gesetzliche Verpflichtung. Vielmehr ist sie eine Chance, gesellschaftliche Teilhabe zu fördern und die Reichweite digitaler Angebote zu erhöhen. Auch wenn es sicherlich einige Herausforderungen zu meistern gilt und die initialen Kosten nicht außer Acht gelassen werden dürfen, überwiegen die langfristigen Vorteile sowohl für die Nutzenden als auch für die Anbieter digitaler Dienste. Wir als Dienstleister können durch die Einhaltung der Barrierefreiheitsstandards innerhalb unserer Kundenprojekte nicht nur einen maßgeblichen Beitrag zur Inklusion leisten, sondern verbessern auch die Nutzerfreundlichkeit und die Sichtbarkeit der digitalen Inhalte.

Indem wir Barrierefreiheit von Anfang an in unsere digitalen Projekte integrieren, sichern wir dem Kunden nicht nur rechtliche Konformität, sondern schaffen auch ein positives Nutzererlebnis, und das nicht nur für Menschen mit Behinderung. Dies stärkt das Firmenimage als verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Organisation und öffnet neue Möglichkeiten, die Zielgruppe zu erweitern und nachhaltig zu wachsen.

Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf hoffe ich, dass ihr die Bedeutung der digitalen Barrierefreiheit erkennt und die notwendigen Schritte unternehmt, um eure digitalen Angebote inklusiver und zugänglicher zu gestalten.

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Bild Eva-Maria  Kynast

Autorin Eva-Maria Kynast

Eva-Maria Kynast ist seit viereinhalb Jahren für adesso als Consultant tätig und arbeitet seither in verschiedenen Projekten der GEMA, des Statistischen Bundesamts und des TÜV SÜD. Ihren Arbeitsschwerpunkt bilden hierbei das Requirements Engineering und UX Design. Darüber hinaus ist sie Trainerin der adesso-Schulung „Usability und User Experience Design Basics“.

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