Menschen von oben fotografiert, die an einem Tisch sitzen.

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Digital ist immateriell und kann daher kein Material sein?

Auf den ersten Blick mag der Gedanke „Digital als Material“ überraschen, denn das Digitale zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es immateriell ist. Im Kern sind es einfach nur Nullen und Einsen, die durch Rechner oder ein Netzwerk fließen und in Endgeräten zu wahrnehmbaren Effekten führen. Meist sind das Bildschirme oder auch Töne, es können aber auch ganz technische Effekte sein, wie eine Ampel, die von Rot auf Grün springt.

Auch wenn dieses Bild im informatisch technischen Sinne vollkommen korrekt ist, schränkt es für mich die Freiheit im Denken doch massiv ein, denn es schaut nur auf die technische Seite der Digitalisierung, den Fluss der Daten in technischen Systemen.

Digitales als Material bietet für mich eine Sicht auf Digitalisierung, die besonders die Gestaltung der Digitalisierung unterstützt. Ausgangspunkt für diese Sicht ist die Systemtheorie. Im Sinne der Systemtheorie ist Digitalisierung nichts anderes als das Schaffen von Systemen, in denen Menschen und Maschinen miteinander auf digitalem und analogem Wege kommunizieren. Zugegeben, ein sehr abstrakter Gedanke. Schauen wir uns daher ein einfaches Beispiel an.

Das Bestellen von Pizza über eine Smartphone App

Ich (Element 1) nehme mein Smartphone (Element 2) in die Hand und öffne die Pizza-App (Element 3). Das Öffnen der App ist eine – wenn auch primitive – Form der Kommunikation zwischen mir und meinem Smartphone. Die App (Element 3) erfragt über das Smartphone vom GPS-Netzwerk (Element 4) meine aktuelle Position, um vom Server der Pizza-App (Element 5) die nächstgelegenen Pizzerien zu erfragen. Wieder zwei Kommunikationen: GPS-Datenabfrage und Abfrage der Pizzerien. Meine App zeigt mir vielleicht drei Pizzerien an, auch wieder eine Form der Kommunikation.

Ich wähle eine Pizzeria in der App, indem ich auf das gewünschte Logo klicke. Schon wieder eine Kommunikation. Nun erfragt die App beim Server die Speisekarte der Pizzeria und zeigt mir diese an. Ich wähle durch Klicken die gewünschte Pizza aus und klicke auf Bestellung abschließen. Nun leitet mich die App zu einem Online-Bezahldienstleister (Element 6). Dieser erfragt meine Zugangsdaten, um die Zahlung zu bestätigen. Der Online-Bezahldienstleister erbittet vom Server meines Kreditkartenanbieters (Element 7) eine Zahlungsbestätigung und erhält diese auch. Der Server meines Kreditkartenanbieters autorisiert eine Zahlung auf das Konto meines Pizzabäckers und damit an den Server seiner Bank (Element 8). Der Online-Bezahldienstleister bestätig dem Server der Pizza-App die Zahlung, womit die Bestellung dann bestätigt ist.

Die Bestellung geht nun an die Lieferanten-App meiner gewählten Pizzeria (Element 9). Das Smartphone meines Pizzabäckers (Element 10) macht sich durch einen Klingelton bemerkbar und teilt ihm so (Element 11) mit, dass eine neue Bestellung vorliegt. Der Pizzabäcker prüft die Bestellung und macht sich direkt ans Werk.

Sobald die Pizza fertig ist und der Fahrer losfährt, bestätigt der Pizzabäcker auf seiner App, dass die Lieferung auf dem Weg ist. Die App des Pizzabäckers gibt diese Information an den Server der Pizza-App, welcher wiederum meiner App mitteilt, dass die Pizza auf dem Weg ist. Mein Smartphone macht sich daraufhin wieder mit einem Ton bemerkbar, damit ich mitbekomme, dass meine Pizza auf dem Weg ist. Kurze Zeit später halte ich meine Pizza in den Händen.

Auch wenn es sich bei diesem Beispiel eigentlich um ein recht triviales Unterfangen handelt, besteht das betrachtete System doch aus elf Elementen, die vielfältig miteinander kommunizieren:

  • Zwei Menschen: ich und mein Pizzabäcker
  • Zwei Smartphones: mein Smartphone und das Smartphone meines Pizzabäckers
  • Zwei Apps: die Bestell-App und die Bestell-Empfangs-App
  • Vier Server: Pizza-App-Server, der Server des Bezahldienstleisters, Server meines Kreditkartenanbieters, Server der Bank des Pizza-Bäckers
  • GPS-Netzwerk zu Positionsbestimmung

Auf der anderen Seite ist dieses Bild der Pizza-Bestellung natürlich auch wieder eine starke Vereinfachung, denn es unterschlägt viele weitere Aktivitäten. Beispielsweise muss ich mich bei der Pizza-App als User registrieren, ich muss ein Nutzerkonto beim Bezahldienstleister haben, der Pizzabäcker muss sich ebenfalls bei der Pizza-App registrieren und so weiter.

Das technische Gegenargument

Aus technischer Sicht könnte man nun entgegnen, dass das Beispiel doch sehr stark auf die technischen Elemente fokussiert und gar nicht so weit weg ist von der rein technischen Sicht, es kommen ja lediglich zwei Menschen dazu: ich und der Pizzabäcker. Alles andere sind technische Elemente und technische Kommunikation.

Diese Beobachtung ist aber nur auf den ersten Blick zutreffend, denn der Zweck des betrachteten Systems ist ja nicht die technische Kommunikation, sondern das Verkaufen von Pizza, also eine sehr menschliche Kommunikation. Nimmt man die Menschen aus dem System heraus und betrachtet sie nicht als Teil des Gestaltungsvorhabens, so wird die Perspektive nur auf die technischen Fragen reduziert und der Mensch tritt in den Hintergrund.

Das Spielen mit den Möglichkeiten des Materials

Ein weiterer Vorteil der vorgestellten Denkweise besteht darin, dass wir sehr einfach mit Digitalisierungsideen spielen und darüber sprechen können.

Hier ein paar Denkanstöße zum Selberdenken und Ausprobieren:

  • Wir sind in einem Smart Home, die intelligente Wasseruhr in der Wohnung erkennt einen Wasserschaden und sperrt den Wasserzufluss, um größeren Schaden zu verhindern. Gleichzeitig ruft das Smart Home den Handwerkernotdienst, um den Schaden zu begutachten und zu beheben. Da gerade niemand in der Wohnung ist, kann dem Handwerker über das Smartphone Zugang gewährt werden. Zum Glück war es nur ein undichter Wasserhahn und es ist nichts Schlimmes passiert. Der Handwerker behebt den Schaden noch bevor die Bewohner nach Hause kommen.
  • Eine langjährige Langstreckenläuferin bekommt aus heiterem Himmel von der Künstlichen Intelligenz ihrer Fitness-App eine Warnmeldung: „Die Sensoren an den Sportschuhen und der Fitnessuhr melden ein unregelmäßiges Schrittmuster. Ursache könnte ein beginnender Gelenkschaden sein. Bitte lassen Sie sich von einem Facharzt untersuchen.“ Die Läuferin ist sehr überrascht, da sie den letzten Marathon ohne Beschwerden absolviert hat. Trotzdem geht sie zu einem Arzt und tatsächlich wird ein beginnender Schaden an den Gelenken diagnostiziert.
  • Nochmal das Pizza-Beispiel. Ein Kunde möchte mal wieder eine Salami-Pizza bestellen, aber die Künstliche Intelligenz der Bestell-App schlägt ihm vor, dass er sich doch besser einen Salat bestellen solle. Die App begründet diese Empfehlung mit der Tatsache, dass er in den letzten drei Woche schon drei Pizzen bestellt hat und sein Bewegungsprofil anzeigt, dass er sich nicht wirklich viel bewegt. Einsichtig bestellt der Kunde dieses Mal einen Salat.

An jeder Idee stoßen sich vermutlich einige Leserinnen und Leser. Ich lasse doch niemand Fremdes in meine Wohnung. Oder ich lasse mir doch nicht von einer KI sagen, wann ich zum Arzt gehe oder was ich essen soll. Das sind durchaus berechtigte Gedanken, aber man kann sich nicht sicher sein, ob solche Funktionen nicht doch viele USER begeistern, denn wir gehen immer nur von unserer eigenen Sichtweise aus.

Digital als Spektrum technischer Möglichkeiten begreifen

Neben der Systemperspektive im Sinne von Kommunikationssystemen bringt die Idee des Digitalen als Material noch eine zweite Perspektive. Die tatsächliche Materialperspektive im Sinne der technischen Möglichkeiten, der Verfügbarkeit und der Akzeptanz dieser Möglichkeiten.

Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung sind in den letzten 20 Jahren förmlich explodiert. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Smartphones mit mobilem Internetzugang sind heute ein Massenprodukt. Genauso selbstverständlich ist heute ein Internetzugang zu Hause. Die Rechenleistung hausüblicher Geräte kommt in einen Bereich, der den Einsatz Künstlicher Intelligenz in vielfältigen Lebensbereichen möglich macht. Weiterhin ist die Miniaturisierung von digitaler Hardware soweit fortgeschritten, dass viele Menschen das Smartphone heute durch eine Uhr am Handgelenkt ersetzen.

Fazit

Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Dreiklang aus technischen Möglichkeiten, der Verfügbarkeit und der Akzeptanz. In einem informatisch technischen Sinne sind die Möglichkeiten heute nicht viel anders als vor 20 Jahren. Auch vor 20 Jahren gab es schon mobiles Internet und tragbare Geräte, die vergleichbar mit heutigen Smartphones waren.

Jedoch waren ihre Verfügbarkeit und damit auch ihre Akzeptanz wesentlich eingeschränkter als heute. Erst durch die breite Verfügbarkeit und die breite Akzeptanz der technischen Möglichkeiten kann Digitales als Material seine Stärke ausspielen und zu einem echten Material werden, mit dem wir unsere Gesellschaft gestalten können.

Um diese neuen Möglichkeiten aber wirklich ausnutzen zu können, müssen wir uns ein Bild von ihren Potenzialen, Grenzen, Stärken und Schwächen machen, um sie frühzeitig im Gestaltungsprozess berücksichtigen zu können und um insbesondere mit diesen Möglichkeiten spielen zu können. Nur so können wir herausfinden, was sie uns bringen und ob es einen potenziellen Markt für diese Ideen gibt.

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Dieser Blog-Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Texte „Ganzheitliche Gestaltung der Digitalisierung erfordert eine gemeinsame Sprache“ aus dem Bitkom Digital-Design-Jahrbuch 2021.

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Bild Kim Lauenroth

Autor Dr. Kim Lauenroth

Dr. Kim Lauenroth ist Chief Requirements Engineer bei adesso und verfügt über mehr als 10 Jahre Erfahrung im Software und Requirements Engineering in verschiedensten Domänen. Er spricht regelmäßig zum Thema RE auf internationalen Tagungen und engagiert sich an Hochschulen und im IREB e.V. für die Aus- und Weiterbildung im Requirements Engineering.

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