7. September 2022 von Stephen Lorenzen, Lars Zimmermann und Georg Benhöfer
Die Merit-Order und die Kopplung von Strom und Gas
Wie haben sich die Energiepreise bislang entwickelt?
Die Sorge um eine Verknappung der Gaslieferungen aus Russland hat die Gaspreise in Deutschland immer weiter in die Höhe getrieben. Kraftwerke zahlten im Juni 2022 für Erdgas knapp 227,0 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Erdgaspreis war für industrielle Käufer 182,6 Prozent und für Einzelhändler 159,5 Prozent höher. Die Gasrechnungen vieler Endverbrauchenden haben sich verdreifacht. Neben diesen rasanten Anstiegen der Preise im Gasmarkt sind gleichzeitig auch die Strompreise angezogen. So brechen die Preise der Strombörse European Power Exchange (EEX) in Leipzig aktuell nacheinander Rekorde (August 2022). Innerhalb eines Jahres hat sich der Preis um das 10-Fache erhöht – von 50 auf 565 Euro pro Megawattstunde (MWh). Das bekommen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher zu spüren: Die durchschnittliche Stromrechnung lag im August 2022 bereits bei 42 Cent pro Kilowattstunden (KWh) – Tendenz steigend.
Aber warum steigt der Strompreis bei Gaspreisanstiegen?
Grund dafür ist die sogenannte Merit Order, die festlegt, in welcher Reihenfolge Kraftwerke an der Strombörse bieten können. Die Merit Order ist keine Vorschrift, sondern ein Modell, das beschreibt, wie der Kraftwerkseinsatz in Europa anhand der Strommarktnachfrage, und zwar am Mittag des nächsten Tages, geregelt wird. Dabei gilt der Grundsatz, zuerst auf günstigere Kraftwerke zurückzugreifen. Bei ausreichender Nachfrage sollen teurere Produktionsstätten berücksichtigt werden. Dieser Schritt folgt, wenn der günstig produzierte Strom aus Wind- und Solaranlagen oder auch Wasserkraftwerken nicht mehr ausreicht, um den Bedarf zu decken. Dann werden nach und nach weitere Kraftwerke (wie Atom-, Braunkohle-, Steinkohle- und Gaskraftwerke) angefordert, bis zum teuersten und/oder letzten in aufsteigender Reihenfolge, dem Grenzkraftwerk. Dies sind aktuell primär die Gaskraftwerke. Die Gesamtprämie erhöht sich entsprechend. Diese richtet sich nach dem teuersten Kraftwerk, das die Grenzkosten, also die zusätzlichen Kosten durch erhöhte Produktion, bestimmt. Infolgedessen schlagen sich die enormen Gaspreiserhöhungen direkt in höheren Strompreisen nieder. Wind- und Solaranlagen, die billiger Strom erzeugen, können derweil mit zusätzlichen Gewinnen rechnen.
Ein einfaches Beispiel gefällig?
Nehmen wir an, die Kundinnen und Kunden melden einen Bedarf von 80 Gigawatt (GW), der in aufsteigender Reihenfolge nicht durch erneuerbare Energien, Wasserkraft, Kernenergie und Braunkohle bedient werden kann. In diesem Fall wird Kohlekraft – mit einem Grenzkostenpreis von 250 Euro pro MWh – benötigt, um den Bedarf zu decken. Der Strom, der am nächsten Tag versteigert wird, kostet dann 250 Euro je MWh. Steigt die Nachfrage weiter auf 100 GW, so dass zusätzlich noch Gaskraftwerke, deren Grenzkostenpreis bei 500 Euro pro MWh liegt, eingeschaltet werden müssen, dann kostet der Strom am Folgetag 500 Euro je MWh – egal aus welcher Quelle er kommt. Weil der Strom einheitlich bepreist wird und aktuell primär Gaskraftwerke – die teuersten Energieerzeuger – ans Netz gehen, schwappt die Krise des teuren Gases auf den Strommarkt über.
Klingt das nicht unfair für die Endverbrauchenden? Was plant die Politik?
Dass Erzeuger aufgrund des Merit-Order-Modells Millionengewinne einstreichen, ist für die Wirtschaft zwar erfreulich, jedoch nicht für die Endverbraucherinnen und -verbraucher, auf die die steigenden Strompreise abgewälzt werden. Die deutsche Regierung greift momentan nicht in diesen Preisbildungsmechanismus ein, woraufhin sich die Betreiber von erneuerbaren Energien, Atomkraftwerken und Kohlekraftwerken teils an gigantischen Gewinnen erfreuen. Am 26.08.22 kündigte jedoch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck an, den Strommarkt zu reformieren. Angestrebt werde, die Entwicklung der Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis zu entkoppeln. Dabei handle es sich um eine mittelfristige Maßnahme. Ziel sei es, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wie auch die Industrie auf ihrer Stromrechnung stärker davon profitieren, dass erneuerbare Energien so günstig produziert werden. Dafür sollten entstehende Übergewinneffekte im Strommarkt, die durch die sogenannte Merit Order für Kraftwerke mit sehr geringen Produktionskosten entstehen, adressiert werden. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Merit Order bleiben solle und lediglich die problematischen Effekte für Stromkundinnen und -kunden geändert würden. Angesichts der Komplexität dieser Reform blickt man auf einen mittelfristigen Planungshorizont, da auch europäische Partner und die europäische Ebene eingebunden werden müssten. Kurzfristig richte sich der Fokus daher weiter auch auf eine Übergewinnsteuer sowie auf zeitnahe Entlastungen für Verbraucherinnen und Verbraucher und Hilfsprogramme für die Wirtschaft.
Wie immer heißt es für die Endverbrauchenden: abwarten!
Kopplung von Gas und Strom, Preise in Rekordhöhe, dazu überschießende Gewinne von Stromproduzenten, die vom Merit-Order-Modell profitieren, und nicht zuletzt leidtragende Haushalte und Industrien, die die steigenden Stromrechnungen ausbaden müssen – diese Faktoren haben die Diskussion um die Preisbildung und die Merit Order an den europäischen Strombörsen dynamisiert. Die Bundesregierung diskutiert mit, leider momentan noch nicht mit griffigen und konkreten Maßnahmen. Aus diesem Grund bleibt den Endverbrauchenden nur eine Wahl: auf kurzfristige entlastende Maßnahmen hoffen und abwarten, bis die Reformpläne zur Entkopplung von Gas und Strom konkretisiert werden. Wir halten euch auf dem Laufenden.
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