29. Oktober 2020 von Alexander Janoske
Daten und deren aktive Nutzung zur Schadenvermeidung am Beispiel der Kraftfahrtversicherung
Ein Schadenmanagement dient als wichtiges unternehmerisches Steuerungselement zur Reduzierung der Schadenaufwendungen. Derzeitige Maßnahmen sind unter anderem die aktive Steuerung der Schäden, im Kfz-Bereich - zum Beispiel durch Werkstatt-Netzwerke und die Vermittlung von Handwerkern im Sachschaden. Aktuell sind wir in der sogenannten Schadensteuerung 4.0 angekommen. Dabei stellt sich nicht die Frage, wie viele Versionsnummern für die weitere deutliche Reduzierung des Schadenaufkommens noch vergeben werden müssen, sondern ob der Prozess nicht vollständig neu gedacht werden muss.
Welche Möglichkeiten existieren, um Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen?
Anstatt sich mit Schadensteuerung zu befassen – also mit dem Handling eines bereits eingetretenen Schadenfalles – sollte besser die Frage gestellt werden, welche Möglichkeiten existieren, um Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen.
Eine Antwort auf diese Frage kann die aktive Nutzung von Daten und Sensoren zur Schadenvermeidung sein. Schon heute verfügt die Versicherungswirtschaft über eine umfangreiche Sammlung statistischer Daten. Diese münden unter anderem jedes Jahr in einem statistischen Jahrbuch. Dabei handelt es sich jedoch um feststehende Daten, die im aktiven Prozess der Schadenverhütung nicht mehr zur Verfügung stehen.
Das Potential zur präventiven Schadenverhütung durch Sensorik
Anhand eines Beispiels aus der Kfz-Versicherung möchte ich das Potenzial zur präventiven Schadenverhütung durch Sensorik näher erklären. Im Jahr 2018 meldete der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft einen neuen Höchststand bei Wildunfällen: 275.000 Wildschäden wurden seinerzeit registriert. Die durchschnittliche Schadenhöhe pro Ereignis wurde mit 2.700 EUR angegeben, so dass der Gesamtaufwand für Wildschadenereignisse um 62 Mio. EUR auf insgesamt 744 Mio. EUR angewachsen ist. Dies entspricht einer Steigerung von knapp 10 Prozent.
Im Rahmen der Schadenbearbeitung erhebt ein Versicherer bereits eine Vielzahl von Daten, unter anderem zum Schadenort und zur Schadenzeit. Das bedeutet, zu jedem einzelnen Schaden ist entweder durch die Schadenanzeige des Versicherungsnehmers oder aber durch die Bescheinigung einer Behörde bekannt, wann und wo und auf welchem Straßenabschnitt ein Unfall eingetreten ist.
Mit den entsprechenden Daten lassen sich folglich Geoinformationen mit Hotspots für ein potenzielles Schadenevent generieren, beispielsweise mittels Predictive Analytics. Aus fachlicher Sicht werden dabei die Informationen zeitnah eingetretener Schadenereignisse sowie historische Informationen genutzt, um neuerliche gleichgelagerte Ereignisse zu vermeiden. Hierbei ist der Einsatz von KI ein Mittel, um die Vorhersagegenauigkeit für den Eintritt eines Schadenfalles auf einem bestimmten Streckenabschnitt zur ermöglichen. Das Beispiel ist nur eines von vielen Anwendungsfällen für ein prädiktives Vorhersagemodell für die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schadenfällen.
Abseits von Predictive Analytics existieren bereits heute Datenquellen, welche für die Vermeidung von Folgeunfällen in Betracht kommen. Beispielhaft ist hier das europäische Notrufsystem eCall zu nennen. Die Funktionsweise ist schnell erklärt. Das System erfasst im Falle eines Unfalls dessen Schwere und löst automatisch einen Notruf aus. In diesem wird - neben einer Sprachverbindung zur Rettungsleitstelle - ein Datensatz über GSM unter anderem mit der exakten Geoposition des Unfalls und der Fahrtrichtung des Fahrzeuges gesendet. Der Rettungsdienst und die Polizei treffen in der Regel erst Minuten später am Unfallort ein und können die Unfallstelle sichern. Echtzeitinformationen hingegen brauchen in dieser Situation nur Sekunden und könnten somit zum Lebensretter werden, in dem Folgeunfälle zum Beispiel durch ein Übersehen der Unfallstelle vermieden werden.
Wie können die Daten nunmehr für die aktive Vermeidung von Schäden genutzt werden?
Heutzutage verfügen moderne Fahrzeuge über ein Navigationssystem oder ein Traffic Management System, über das in Echtzeit Verkehrs- und Serviceinformationen empfangen werden können. Typischer Anwendungsfall hierfür ist zum Beispiel die dynamische Stauumfahrung. Aktuelle Verkehrs- und Stauinformationen von Verkehrsteilnehmern oder Behörden werden aufbereitet, um anderen Verkehrsteilnehmern eine großräumige Umfahrung von Verkehrshindernissen oder Gefahrenstellen zu ermöglichen.
Auf dieselbe Art und Weise könnten auch Schadeninformationen in das Fahrzeug übertragen werden. Die Daten können folglich genutzt werden, um Hotspots mit einem signifikanten Schadenaufkommen zu umfahren, indem das Navigationssystem eine alternative Route berechnet. Denkbar ist ebenfalls der Ansatz, bei dem einem Fahrzeugnutzenden beim Befahren eines risikobehafteten Streckenabschnittes eine akustische Warnung ausgeben und zudem eine Richtgeschwindigkeit empfohlen wird, die unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit liegt. Mit diesen Maßnahmen kann dem Fahrzeugführenden ausreichend Zeit verschafft werden, um auf eine drohende Kollision zu reagieren und diese abzuwenden.
Wird dieser Smart-Data-Ansatz weitergedacht, können diese Daten zukünftig genutzt werden, um im Rahmen des teil- oder vollautonomen Fahrens die Fahrzeugsteuerung zu beeinflussen. Und zwar so, dass diese - unabhängig von den bereits verbauten Assistenzsystemen - zusätzlich zur Unfallmeidung beitragen. Das kann durch eine Herabsetzung der Geschwindigkeit oder durch den Aufbau von Bremsdruck erfolgen und damit zur Unfallvermeidung beitragen.
Wie groß das Einsparpotenzial zur Nutzung von Assistenzsystemen ist, wurde bereits vom Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV) in einer Studie aus dem Jahr 2017 thematisiert. Betrachtet wurde ein Zeitraum bis zum Jahr 2035. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Kfz-Markt mit entsprechenden Assistenzsystemen im Durchschnitt zu ca. 70 Prozent durchdrungen ist. Berücksichtigt wurden nur die klassischen Assistenzsysteme, wie Park-, Brems- und Spurbeeinflussungssysteme, ohne die Einbeziehung von externen Datenquellen. Im Ergebnis dessen rechnet der GDV mit einer Reduzierung der Schadenaufwendungen in der Kraftfahrzeugversicherung zwischen 7 und 15 Prozent.
Weiterhin kommt die Studie zu der Erkenntnis, dass durch die Verknüpfung aller verfügbaren Sensoren und Informationen zum Fahrzeugumfeld die Gesamteffizienz der Systeme deutlich erhöht wird. Anders ausgedrückt: Mit einer höheren Reduzierung des Schadenaufwandes ist dann zu rechnen, wenn weitere Datenquellen erschlossen und für die Verkehrsbeeinflussung genutzt werden. Bei einer Unterstellung eines Ersparnispotenzials von 10 Prozent würde dies für das oben thematisierte Beispiel für Wildschäden eine Reduzierung des Schadenaufwandes um rund 75 Mio. EUR bedeuten. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je umfangreicher die Datenlage ist, desto größer ist der Einfluss auf die Assistenzsysteme und damit auf die Beeinflussung des Fahrverhaltens.
Was sagen die User?
Ein wichtiger und nicht zu vernachlässigender Punkt bei der Nutzung von Daten ist allerdings die Akzeptanz durch Nutzerinnen und Nutzer.
Es stellt sich die Frage, ob der gefühlte Verlust (Zeit, unbekannte Strecke, zusätzliche Kosten, kognitive Anstrengung bezüglich des Abwägungsprozesses, ob einer neuen Strecke Vertrauen geschenkt wird) vom Fahrenden stärker gewichtet wird, als der Gewinn durch ein vermindertes Unfallrisiko. Letzteres ist für den Fahrzeugnutzenden in diesem Moment objektiv nicht greifbar, so dass es nach meiner Auffassung auf die grundsätzliche Einstellung eines potenziellen Konsumenten des Services ankommt. Handelt es sich beispielsweise um einen Außendienstmitarbeitenden oder einen Lkw-Fahrer unter Zeitdruck, so kann womöglich unterstellt werden, dass für diesen der Gewinn an Sicherheit wohl eher eine untergeordnete Rolle spielt. Er wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Risiko bewusst eingehen, da er seine Termine schnellstmöglich erreichen möchte. Hinzu kommt, dass er durch die Nutzung eines Firmenfahrzeuges keine finanziellen Nachteile erleiden wird – sofern ein reiner Blechschaden unterstellt wird, sodass eine Motivation zur Schadenvermeidung eine untergeordnete Rolle spielen wird.
Ganz anders sieht die Ausgangslage bei einem Senioren aus. Bekanntermaßen hat diese Nutzergruppe ein höheres Sicherheitsbedürfnis und – vielleicht – auch mehr Zeitreserven. Gleichfalls würde ein Unfall eine direkte finanzielle Auswirkung auf diese Personengruppe haben, da meist ein eigenes Fahrzeug genutzt wird. Daher ist davon auszugehen, dass sich dieser Personenkreis mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine Umfahrung eines Unfallschwerpunktes entscheidet und einen damit verbundenen Zeitverlust für einen Sicherheitsgewinn in Kauf nehmen würde. Zu betrachten ist ferner, das allgemein geringere Unfallrisiko für die genannte Personengruppe, was sich sodann positiv auf das Einsparpotential auswirken dürfte.
Fazit
Die Nutzung von Daten kann einen erheblichen Einfluss auf die Reduzierung des Schadenaufkommens haben. Eine differenzierte Betrachtungsweise zeigt jedoch, dass eine gute Datenlage nicht automatisch zu einer besseren Schadenquote führt. Erst in Verbindung mit der Akzeptanz des Nutzenden ist eine maximale Effizienz in Verbindung mit einer Schadenvermeidung möglich.
Blickt man in die Zukunft, so sind zwei Dinge erforderlich, um das Gesamtpotenzial zur Schadenvermeidung auszuschöpfen. Erstens ist, um im Bereich der Kraftfahrzeugschäden zu bleiben, ist ein hoher Automatisierungsgrad im Bereich des autonomen Fahrens dahingehend erforderlich. Und zwar so, dass dem Fahrenden die Entscheidungshoheit über die gefahrene Strecke da genommen wird, wo Unfallschwerpunkte existieren. Andererseits bedarf es intelligenter Leitsysteme und Datenquellen, um den Prozess des autonomen oder des teilautomatisierten Fahrens effektiv zu unterstützen.
Es bleibt aus meiner Sicht abzuwarten, ob der technische Reifegrad eines Fahrzeuges in den nächsten Jahren ein vollautonomes Fahren ermöglichen wird. Darüber hinaus ist eine erhebliche Investition in Verkehrsleitsysteme - etwa intelligente Ampeln - erforderlich, um eine Car-to-Infrastruktur Kommunikation zu ermöglichen. Angesichts der Auswirkungen der Corona-Krise werden derartige Investitionen durch die öffentliche Hand vermutlich sehr zurückhaltend oder gar nicht erfolgen.
Aufgrund dessen liegt für mich der Schlüssel in der Nutzung bestehender Assistenzsysteme und Traffic Management Systeme mit Echtzeit- und prädiktiven Schadeninformationen.
Ihr möchtet mehr über spannende Blog-Beiträge aus dem Insurance-Kontext bei adesso erfahren? Dann werft doch einen Blick auf unsere bisher erschienenen Blog-Beiträge.